„Ich kann nicht fassen, dass Sie mich angeschossen haben“, sagte der Fremde, und zwar nicht zum ersten Mal, seit sie in ihre Kutsche eingestiegen waren.
„Ich habe nicht auf Sie gezielt. Sie standen meiner Kugel im Wege“, sagte Marianne.
Also, dieser Mann könnte sich wirklich ein wenig dankbarer dafür zeigen, dass sie ihm das Leben gerettet hatte. Sie hatte den Schuss abgefeuert, um den nahenden Unhold abzuschrecken, und nur wenige Sekunden später war ihr vertrauter Lakai Lugo aufgetaucht. Der Anblick Lugos imposanter Statur und seines unnachgiebigen Ebenholzprofils – und nicht zuletzt seiner doppelläufigen Flinte – hatten die Schurken Hals über Kopf in die Nacht verschwinden lassen. Sie hatte daraufhin Lugos Entschuldigungen von sich gewiesen (ein Menschenauflauf auf der Straße hatte ihn aufgehalten) und ihn aufgefordert, ihren Möchtegern-Retter in die Kutsche zu verladen.
Nun rollte das Gefährt zügig voran und der große Mann mit den faszinierenden Bernsteinaugen starrte sie finster aus seiner Ecke an. Irgendwann im Tumult hatte er seinen Hut verloren; sein edelholzfarbenes Haar – das weder glatt noch lockig war, sondern irgendwo dazwischen – glänzte unter der Kutschenlampe. Hochgewachsen und in einem Mantel, der schon bessere Tage gesehen hatte, sah er auf den weichen Lavendelpolstern fremd aus. Mit einer großen Hand hielt er sich den verwundeten Arm; mit einem Schaudern bemerkte sie, wie ihm das Blut scharlachrot zwischen den Fingern hindurch rann.
„Lassen Sie mich das ansehen.“ Sie kam zu seiner Seite hinüber. Als er vor ihr zurückwich, sagte sie etwas kratzig: „Halten Sie gefälligst still. Ich habe gerade die Sitze neu beziehen lassen und Sie bluten mir überall hin.“
Er starrte sie düster an, doch als sie ihm bedeutete, seinen Mantel auszuziehen, leistete er Folge. Ihr Herzschlag ging schneller, als sie den roten Flecken auf seinem linken Hemdsärmel sah. Doch sie sagte nichts, blickte geradeaus, während sie ein Taschentuch aus ihrem Beutel holte und es um die Wunde wickelte. Unter dem groben Hemdstoff zuckte sein Bizeps – ein unerwartet fester Muskelstrang angesichts seiner mageren Gestalt. Ansonsten aber ließ er sich keinen Schmerz anmerken. Was ebenfalls überraschend war. Ihrer Erfahrung nach wurden Männer bei Blutverlust zu Kleinkindern.
Dieser Kerl jedoch… war anders als andere Männer. Es gefiel ihr nicht, dass er so schwer zu deuten war. Sein Gesicht war nicht gerade schön, doch sie fand, dass seine asketischen Züge etwas an sich hatten. Sein energischer Kiefer ließ vermuten, dass er ein beharrlicher Mann war. Einer, der schwere Zeiten durchstanden hatte – seinen eingefallenen Wangen nach zu schließen. Allein sein voller Mund und leichte Lachfalten um die Augen linderten die Strenge ein wenig.
Im Augenblick war sein seltsam heller Blick allerdings verhüllt, und sie merkte, dass sie nicht die Einzige war, die hier jemanden studierte. Seine Lippen waren fest zusammengepresst, als ob er etwas an ihr… auszusetzen hatte? Das passierte ihr bei Männern in der Tat selten. Das wusste sie ganz ohne Eitelkeit: Sie war sich ihrer Schönheit bewusst, ebenso wie der Wirkung, die sie auf Männer hatte. Ihr Aussehen war ihr Segen und Fluch zugleich. Und selten machte sich jemand die Mühe, unter die Oberfläche zu blicken.
Wenn sie es täten, fänden sie alles andere als Liebreiz.
Sie verknotete das Taschentuch, fest genug, dass im Kiefer des Fremden ein Muskel zuckte. „Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir uns einander vorstellen“, sagte sie. „Wer sind Sie?“
„Ambrose Kent, zu Ihren Diensten.“ Er nickte wenig freundlich.
Der Name kam ihr bekannt vor. „Sie sind mit den Hartefords bekannt.“ Sie kniff die Augen zusammen. „Sie sind so eine Art Wachtmeister, nicht wahr?“
Etwas flackerte in seinem Blick. Vielleicht nahm er den abfälligen Unterton in ihrer Stimme wahr. Ihrer Erfahrung nach nutzten die sogenannten Gesetzeshüter ihre Macht gegen die, die sie eigentlich beschützen sollten. Zum Beispiel Skinner, der verfluchte Runner, den sie einst angeheuert hatte. Sie traute keinem Kopfgeldjäger, keinem Charley, keinem Polizisten – im Grunde genommen überhaupt keinem Mann – über den Weg.
„Ich bin Hauptaufseher bei der Thames River Police“, sagte er steif. „Und mit wem habe ich die Ehre?“
„Marianne Sedgwick, Baronin Draven“, sagte sie.
Als er ihren Titel hörte, vertieften sich die angespannten Falten um seinen Mund. Interessant, er hat also nichts für den Adel übrig? Soweit sie sich allerdings erinnern konnte, schwärmte ihre Freundin Helena geradezu von diesem Mr. Kent, und die war immerhin die Marquise von Harteford. Offenbar hatte Kent Helenas Gemahl bei der Aufklärung mehrerer Diebstähle geholfen und einmal dem Marquis von Harteford sogar das Leben gerettet. Es schien, dass Harteford – auch so ein Mann der stoischen Art – sich offenbar gut mit Kent verstand, obwohl Marianne sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, was ein Marquis und ein Polizist denn miteinander zu besprechen hatten.
Fasziniert musterte Marianne ihren Gefährten weiter. Wenn es also nicht Adelsprädikate waren, die er verachtete, dann lag es wohl an ihr? Vielleicht hatte er von ihrem Ruf gehört; vielleicht war er wie diese selbstgefälligen, scheinheiligen Menschen, die sie als die „Lustige Witwe“ bezeichneten. Die sie dafür verachteten, dass sie in vollen Zügen die Freiheiten genoss, die ihr von Rechts wegen zustanden – die sie sich mit den fünf Jahren Hölle erkauft hatte, die ihre Ehe gewesen war, und mit dem Schmerz, der sie bis zum heutigen Tag peinigte.
Wut straffte ihr Rückgrat. „Eilt mein Ruf mir voraus?“, fragte sie kühl.
„Ihr Ruf?“ Er runzelte die Stirn.
Also hat er die Gerüchte über mich doch nicht gehört. Nun, das ist auch nicht weiter verwunderlich. Wir bewegen uns ja wohl kaum in denselben Kreisen. Wie auch immer, es schert mich ja eigentlich keinen Deut, was er von mir hält.
„Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn ich frage“, sagte er plötzlich, „aber was haben Sie denn allein zu dieser Nachtstunde in dieser Ecke von Covent Garden zu suchen gehabt?“
Marianne blieb der Mund offen stehen. So hatte sie schon lange keiner mehr zur Brust genommen. Es ärgerte sie, dass sich dieser hagere Gendarm in seinen schäbigen Klamotten das anmaßte. Nach allem, was sie durchlitten hatte, war sie nun eine eigenständige Frau. Sie schuldete niemandem Rechenschaft. Sie antwortete mit eiskalter Gelassenheit, eine Klinge, die sie in der feinen Gesellschaft geschliffen hatte.
„Doch, das stört mich durchaus“, sagte sie. „Meine Angelegenheiten gehen Sie gar nichts an.“
„Nicht, wenn die Ihr Leben gefährden, und das anderer, die sich genötigt sehen, Sie vor Ihrem eigenen Aberwitz zu retten.“
Also, was diesem Mann einfiel! „Ich habe Sie nicht um Hilfe gebeten“, schnappte sie.
„Nein, das haben Sie nicht“, pflichtete er ihr bei. „Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie eher um Hilfe geschrien.“
Zum ersten Mal seit Jahren fühlte Marianne ihre Fassung bröckeln. „Ich habe nicht geschrien. Ich habe meinen Lakaien Lugo wissen lassen, wo ich bin. Und überhaupt hatte ich die Lage bereits im Griff, bevor Sie sich eingemischt haben.“ Sie zuckte zusammen, als sie den Ärger in ihrer eigenen Stimme köcheln hörte. Sie atmete tief durch. Als sie sich wieder gefasst hatte, krümmte sie eine Augenbraue und blickte vielsagend auf seinen Arm. „Zweifeln Sie etwa daran, dass ich ohne zu zögern das Nötige tun würde?“
„Ich zweifle an Ihrem gesunden Menschenverstand, Milady. Und an Ihrer Selbstbeherrschung. Keine Vergnügung kann das Risiko wert sein, dass Sie heute Nacht eingegangen sind“, sagte er grimmig.
Das reichte ihr. Dieser altkluge Prinzipienreiter hier gedachte wohl, ihr Vorschriften zu machen? Eine Erinnerung kam in ihr hoch, ehe sie sie verdrängen konnte: zwischen den runzligen Schenkeln von Draven kniend, vor Scham und Furcht würgend. Streng dich ein wenig mehr an, du nutzloses Luder, sonst sieht du deine kleine Primrose nie wieder…
Die Brust schnürte sich ihr zu, sie stieß das Bild von sich. Atmete aus. Von dem Moment an, als Draven starb, hatte sie sich geschworen, ihre eigene Herrin zu sein. Niemand – und schon gar nicht dieser selbstgerechte Niemand – würde je wieder über sie herrschen.
Der Zorn klärte ihr den Verstand, machte ihn so scharf und kristallklar wie Eis. Sie fasste einen Plan und musste fast darüber lächeln, wie herrlich einfach er war. Mir wollen Sie also predigen, Mr. Kent? Nun, da wollen wir mal sehen, wer heute Abend eine Lektion lernt.
„Sie gehen ganz offenbar nicht den richtigen Vergnügungen nach“, sagte sie gedehnt. „Als Witwe kann ich Ihnen versichern, dass manche Vergnügen jegliches Risiko wert sind.“
Seine dunklen Augenbrauen zogen sich zusammen, seine Wangen verfärbten sich. Gut – sie hatte den Moralapostel entrüstet. Ehe sie den Funken der Befriedigung genießen konnte, sagte er allerdings verbissen: „Es geht nicht um mich. Es geht um Sie und wie sträflich Sie Ihre eigene Sicherheit vernachlässigen. So manch ein Wachtmeister hätte weniger Mühe, wenn Menschen einfach ein wenig mehr Vernunft walten ließen–“
„Und Sie, Mr. Kent, sind ein wahrer Quell der einfachen Vernunft, nicht wahr?“
Ihr Spott entging ihm nicht. Trotz seines scheinheiligen Hochmuts war Kent offenbar kein Narr. „In meiner Arbeit habe ich Leid gesehen“, sagte er, „von dem man Vieles mit ein wenig Weitblick hätte vermeiden können.“
„Tatsächlich“, sagte sie gelangweilt.
„Ich will Ihnen keine Predigt halten, Milady. Ich will lediglich behilflich sein.“ Der Muskel an seinem Kiefer zuckte erneut; Kent war nicht so stoisch, wie er es gern wollte. „Wenn Sie glauben, dass Sie über meinen Rat erhaben sind, dann brauchen Sie ja nicht darauf zu hören.“
„Erhaben, Sir? Überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil, ich benötige Ihre Dienste gerade jetzt im Augenblick.“
Er verkniff die Augen, die aussahen wie durch Bernstein schimmerndes Licht.
„Wir sind bei mir zu Hause angelangt“, sagte sie. Er schlug überrascht seine langen Wimpern auf, hatte also den Halt der Kutsche vor lauter scheinfrommer Ratschläge gar nicht bemerkt. „Und nach den beunruhigenden Ereignissen des Abends“ – sie schützte ein sanftes Schaudern vor – „muss ich ins Haus eskortiert werden.“
Er runzelte die Stirn. „Kann Ihr Lakai Sie nicht begleiten?“
„Könnte er. Aber ich wünsche ausdrücklich Ihre Gegenwart.“ Sie warf ihm einen lohenden Blick zu, bei dem Vertreter des starken Geschlechts normalerweise zu ihren Schuhen in Pfützen zerflossen. Der Polizist jedoch beäugte sie weiter argwöhnisch. Sie lächelte verführerisch. „Ich würde meine Dankbarkeit für Ihr Eingreifen heute Abend gerne privat ausdrücken.“
Er errötete. „Wenn Sie Ihre Lehre daraus gezogen haben, ist mir das Dank genug.“
Meine Güte, dieser Mann war in der Tat eine Herausforderung. Ihr Interesse an ihm stieg noch weiter. Jeder Mann hatte eine verwundbare Stelle. Und sie hatte schon eine Ahnung, wo die Rüstung dieses Möchtegernritters ihren Riss hatte.
„Dann vielleicht ein anderes Mal“, sagte sie gleichgültig.
Sie klopfte an die Tür. Sie öffnete sich und es erschien das ausdruckslose Gesicht von Lugo. Kent achtete gar nicht auf die Stufen, sprang herab und wandte sich um, um ihr die Hand zu reichen. Sie ergriff sie, und tat beim Aussteigen absichtlich einen Fehltritt.
Kent fing sie auf. „Ist alles in Ordnung?“, fragte er.
Gegen seine starke Brust gedrückt empfand sie ein seltsam schwindelndes Gefühl. Sie sprach, wobei sie verstört bemerkte, dass die Atemlosigkeit in ihrer Stimme nur teilweise gespielt war. „Es muss mich doch alles mehr mitgenommen haben, als ich dachte“, murmelte sie. „Danke, Sir.“
Im nächsten Moment hob Kent sie vom Boden auf.
„Aber Ihr Arm“, sagte sie überrascht.
„Es ist nur ein Kratzer“, sagte er achselzuckend. „Ich bringe Sie hinein.“