Das Morgenlicht fiel durch die Kontorfenster. Obwohl er an seinem Schreibpult beschäftigt war, bemerkte Gavin Hunt, wie die Strahlen in den Sitzbereich fielen und auf den Mahagonimöbeln und den vergoldeten Borten schimmerten. Er mochte das Licht. Er darbte geradezu danach, nach all den Jahren, die er in Finsternis verbracht hatte. Sogar jetzt, auf der Höhe des Erfolgs, erledigte er die meisten seiner Geschäfte im Dunkeln. Über dem Marmorkamin schlug die goldene Ormulu-Uhr die elfte Stunde. Der angenehme Klang ertrank in den Geräuschen, die von der zweiten Person im Zimmer ausgingen. Die Gestalt war über die Kante seines Schreibpults gebeugt.
„So ist’s recht, Hunt, ackern Se mich ruhig noch fester.“ Keuchend blickte Evangeline Harper über ihre nackte Schulter zu ihm zurück. Kupferfarbene Locken umrahmten ihr keckes, katzenhaftes Gesicht. Sie zupfte herausfordernd an dem Strick, mit dem ihr die Handgelenke auf dem Rücken gefesselt waren. „Se wissen doch, ick mag et grob. Ick will jeden jewaltigen Zoll von Ihrem Schwanz fühlen.“
„Da hast du mehr“, sagte er und folgte ihrer Aufforderung mit einem tiefen Stoß.
Ihr Rückgrat bäumte sich in Ekstase auf, die Hügel ihrer Pobacken wackelten mit seinen Stößen mit. Diese Spielchen hatten ihn einst erregt; nun aber wünschte er fast, sie wäre nicht einfach unangekündigt und geil bei ihm erschienen. Sein Körper vollzog den Akt, doch sein Verstand wollte nicht teilnehmen. So war es ihm in letzter Zeit oft ergangen; es war, als ob er die Lust an seinen eigenen Lastern verloren hatte. Gott steh ihm bei, sogar Ficken war zur Pflichtübung geworden.
Evangeline stöhnte, drückte sich an ihn. Auf der Schreibunterlage neben ihrer sich windenden Gestalt zappelten seine Glückswürfel in ihrem Becher. Zwei Sechser.
Er packte ihre Hüften und hämmerte fester. Vielleicht arbeitete er einfach zu viel. Als Besitzer der Unterwelt, der berüchtigten Spielhölle in Covent Garden, lebte er in einer grausamen, erbarmungslosen Welt. Vor zwei Monaten erst war ein anderer Clubbesitzer an einem Ast gebaumelt. Die Zunge hatte man ihm herausgeschnitten, ebenso fehlten ihm Hände und Füße. Ein Schuldiger fand sich nicht, doch in der Gosse wusste jeder, dass eines der konkurrierenden Häuser das Verbrechen begangen hatte. Neben der Unterwelt gab es nämlich noch vier weitere bedeutende Etablissements dieser Art. Und alle wurden von Männern betrieben, die einflussreich und zum Töten bereit waren.
Nachdem am Morgen der letzte Kunde gegangen war, wollte Gavin sich eigentlich mit Hugh Steward treffen, seinem Mentor und vertrauten Aufseher des Clubs. Nachdem es kürzlich einen Übergriff auf Kunden der Unterwelt gegeben hatte, hatten sie viel zu besprechen. Doch da war Evangeline aufgetaucht, mit ihrem großen Lächeln und nicht minder beachtlichen Titten. Gavin dachte, dass ihm ein rasches, stürmisches Ficken vor der Arbeit vielleicht gut täte.
„Hörense bloß nüscht auf, ick bin fast da, ick komm’ so heftig—“, jaulte sie.
Die Würfel hüpften immer noch im Takt mit ihrem Koitus. Evangeline stöhnte und drechselte ihren Schamhügel an die hölzerne Tischkante, während er sie fickte. Hätte sie die Hände frei, da war er sich sicher, würde sie sich hemmungslos reiben. Sie war mit ihrer eigenen Lust so zweckmäßig wie er mit der seinen. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Gedanken verborgen. Der Beischlaf lief immer so ab: Sie taten es zusammen und doch jeder für sich. Evangeline war, wie er selbst, der Gosse entsprungen, beider Philosophie war das Überleben.
Am Ruder bleiben. Die eigenen Interessen sichern. Treue belohnen … und Betrug strafen.
Beim bloßen Gedanken an Betrug zuckte ihm ein Muskel im Kiefer. Die winzige Regung sandte ein Schaudern über seine rechte Gesichtshälfte. Die Narbe, die von der Wange bis zum Kinn verlief, war eine stete Erinnerung daran, dass er die Hölle überlebt hatte und nun darüber herrschte. Der Erfolg seines Etablissements hatte ihm Reichtum und Beziehungen eingebracht; nun hatte er die Macht, das eine Ziel zu verfolgen, das ihn durch seine finstersten Stunden am Leben gehalten hatte.
Er lebte für die Aussicht auf Rache. Und bald schon wäre die Rache sein.
Bei diesem Gedanken begannen seine Säfte zu fließen. Er hielt Evangeline fest, hieb seinen Schwanz fester, tiefer in sie hinein, behauptete seine Herrschaft über sie mit jedem Stoß. Macht. Jeder, der mir etwas schuldet, wird zahlen. Sein Blick verschwamm scharlachrot.
„Bei den Titten de heiljen Mutter Maria, ick komm’“, schrie sie.
Erleichterung sprudelte seinen Schwanz empor, und er ergoss sich ebenfalls, schaudernd.
Nach einem Moment band er sie los und sie beide machten sich sauber. Bis er sich des Präservativs entledigt und die Hosen zugeknöpft hatte, war sie schon vollständig angekleidet. Berufsgewohnheit, vermutete er, obwohl sie sich ja dieser Tage selbst als Schauspielerin bezeichnete. Nicht, dass es ihm etwas bedeutete. Evangeline landete immer auf den Füßen, wie eine Katze, und er achtete das.
„Bleibst du noch auf einen Kaffee?“, fragte er.
Sie lächelte. Ihre Schminke war ein wenig abgegangen, sodass er die dünne Kontur ihrer Lippen sehen konnte. „Und über wat würden wir zwee denn plaudern, Hunt? Det verdammte Wetter? Nee, ick gloob, wir sin’ hier fertig für heute. Ick mach’ mir besser auf’n Weg.“
„Ehe du gehst, habe ich noch etwas für dich“, sagte er.
Er öffnete eine Schreibtischschublade und nahm ein filigranes Medaillon heraus. Ein kleiner Lord hatte bitterlich geweint, als er Gavin das Familienerbstück übergab. Gavin war es egal gewesen, das Stück würde ein hübsches Sümmchen erzielen. Für Gefühlsduselei hatte er nichts übrig. Aber an einen fairen Handel glaubte er allemal. Er ließ die Kette vor Evangelines Gesicht baumeln.
„Oh, die is aber hübsch“, gurrte sie. Er ließ die Kette über ihren Kopf gleiten. Sie wackelte mit den Schultern, sodass das Medaillon in die tiefe Spalte zwischen ihren Brüsten glitt. „Na, wie isses?“
„Sieht aus, als hätte es eine beneidenswerte Heimat gefunden“, sagte er.
Sie lachte und zwinkerte ihn anrüchig an. „Bis zum nächsten Mal, hä?“
Nachdem sie gegangen war, läutete er nach seinem Kaffee und ging wieder an seinen Schreibtisch. Er wusste, was ihm Unangenehmes bevorstand und konnte sich nicht dazu aufraffen, Stewart zu holen. Stattdessen nahm er seine Würfel und warf sie von einer Hand in die andere. Er war ruhelos, übersättigt und leer zugleich. Er unterdrückte gerade ein Gähnen, als es klopfte. Der Kaffee, wurde ja auch Zeit. Als der Lakai hereingewieselt kam, ohne silberne Kaffeekanne, dafür aber mit einem verstörten Ausdruck im Gesicht, blickte Gavin finster.
„T-tut mich leid, dass ick störe, Sir“, stammelte der Diener. „Da is een Herr, der will Se sprechen. Dringend, sagt er.“
„Wer ist es?“
„Fines, hat er jesagt, Sir“, sagte der Lakai.
Paul Fines. Gavin richtete sich in seinem Stuhl auf. „Ein junger Spund, aufgeputzt wie ein Pfau?“
„Ja, jenau so eener, Sir.“
„Dann schicken Sie ihn herein“, befahl Gavin.
Er ließ die Würfel auf den Schreibtisch fallen und lächelte mit grimmiger Zufriedenheit, als beide mit den Sechsern nach oben landeten. Monatelang hatte er darauf gewartet, auf die Gelegenheit, Paul Fines zu Fall zu bringen. Der Narr war ohnehin schon auf sein Verderben zu geschlittert, und eine Runde Faro hatte ihm den Rest gegeben. Doch statt die Eigentumsurkunde zu Fines & Kompagnie zu holen, wie er versprochen hatte, hatte der verdammte Trottel sein Wort gebrochen und sich aus dem Staub gemacht. Gavins Männer hatten tagelang nach Fines gesucht.
Wenn er Fines’ Teilhabe erst einmal hatte, würde ihm der Mehrheitsanteil an der Firma von Nicholas Morgan gehören, und dann würde sich die Maschinerie der Rache in Bewegung setzen. Es war Morgans Schuld, dass Gavin für ein Verbrechen, das er nicht begangen hatte, zehn Jahre in Gefangenschaft gedarbt hatte. Die Finsternis, die stets auf ihn lauerte, stieg in ihm auf wie eine Woge; er kämpfte gegen die nur allzu vertraute Flut des Zorns an. Die Wut hatte ihm die Kraft und den Willen zum Überleben gegeben; nun würde sie ihm dabei helfen, Gerechtigkeit walten zu lassen.
Vorfreude köchelte in ihm, als die Tür aufging und jemand eintrat. Er nahm wahr, wie feingliedrig die Gestalt war, wie der übergroße grüne Gehrock um die schlanken Beine flatterte. Die Hutkrempe neigte sich tief über einen kurzen Lockenschopf. Der Jüngling blickte auf, und Gavin verspürte einen seltsamen Ruck im Magen.
Die Augen, die ihn anblickten, waren groß, von dichten Wimpern umrandet, und die Farbe … nie zuvor hatte er derart blaue Augen gesehen. Lebhaft und rein, wie ein gemalter Sommerhimmel. Verdattert nahm er den Rest des Gesichts in Augenschein: zarte Konturen, eine kecke Nase und ein buschiger Schnauzbart, der wie ein Schatten über den zierlichen, feinen Zügen lag. Ein Fremder—und ganz gewiss nicht Paul Fines.
„Wer zum Teufel sind Sie?“, verlangte Gavin zu wissen.
Der Jüngling schien auf der Schwelle zu zögern. Dann straffte er seine Schultern und schritt auf den Schreibtisch zu. In jedem Schritt lag ein gazellenhafter Schwung. Er blieb auf der anderen Seite des polierten Mahagonitisches stehen; sein Kopf neigte sich leicht nach links, während er Gavin musterte. Sein Blick blieb an der Narbe hängen. Gavin erwartete, dass sich der Blick nun wie üblich abwenden würde, voll Angst oder Abscheu, doch die hellen blauen Augen begutachteten ihn unbeirrt und ungeniert weiter.
Zum Teufel, er wurde gerade gründlich abgeschätzt. In seinem eigenen Kontor, von einem Frechdachs, der nur halb so groß war wie er selbst.
„Danke, dass Sie mich empfangen, Mr. Hunt.“ Die Stimme, obwohl sanft und recht musikalisch, ließ keinen Zweifel an ihrer Entschlossenheit. „Entschuldigen Sie, dass ich unangemeldet erscheine. Mir blieb nichts anderes übrig, wissen Sie—“
„Hören Sie gefälligst auf mit dem Zinnober. Ich will wissen, wer Sie sind, und warum Sie sich fälschlich als Paul Fines ausgegeben haben.“
Die übermäßige Behaarung auf der Oberlippe des Jünglings erzitterte. Nicht vor Furcht, wie man vermutet hätte, sondern vor … Empörung? „Nicht fälschlich, Sir. Ich heiße tatsächlich Fines.“
Gavin kniff die Augen zusammen. „Und wie hängen Sie mit Paul Fines zusammen?“
„Er ist mein Bruder.“ Das kleine Kinn hob sich trotzig. „Und ich bin in seinem Namen hier.“
Glaubte dieser Grünschnabel, ihn zum Narren halten zu können? Unter dem Schreibtisch ballten sich Gavins Fäuste. Über die Wahlfamilie seines Feindes hatte er gründliche Erkundigungen einholen lassen. Jeremiah Fines, Patriarch und Gründer der Handelsgesellschaft Fines & Kompagnie war schon seit vier Jahren tot. Er hatte eine Witwe namens Anna und zwei Kinder hinterlassen. Der erstgeborene und Erbe war Paul Fines, und einen Bruder hatte er nicht. Nur einen verzogenen Teufelsbraten von einer jüngeren …
Verdammte Hölle. Das kann doch nicht sein.
Gavin kam brüsk auf die Füße. Das Kreischen des Stuhls erschreckte Fines, und seine Hände fuhren unvermittelt zu seiner Brust. Gavin sah, wie schlank und zierlich die Finger, wie säuberlich gefeilt die Nägel waren.
„Ihr Name“, sagte Gavin verbissen.
Ein Hüsteln, gefolgt von einem mürrischen: „Percy, Sir.“
Heiliger Bimbam.
Er kam um den Schreibtisch herum. „Percy … das ist doch die Abkürzung für Percival, nehme ich an?“, fragte er seidig.
„Jeder nennt mich, äh, Percy. Sie können mich Fines nennen, wenn Sie möchten.“
„Nun denn, Percy“, sagte er bedacht und sah zu, wie die Röte die schneeweißen Wangen emporstieg, „was kann ich denn heute für Sie tun?“
„Ich bin hier, um mit Ihnen über die Promesse meines Bruders zu sprechen. Genauer gesagt, um deren Herausgabe zu verhandeln.“
Eines musste Gavin diesem Matz lassen; sie war dreist. Denn er hatte inzwischen nicht den geringsten Zweifel, dass es sich bei Percy um niemand anderen handelte als Paul Fines’ jüngere Schwester Persephone. Heiliger Strohsack, sie hatte größere Eier als die meisten Männer. Männer, die zweimal so breit waren wie sie, schlotterten vor ihm in ihren Stiefeln, würden eher ihre eigenen Mütter verkaufen, als Gavin hinters Licht zu führen. Doch hier stand sie, in ihrer lächerlichen Maskerade, und verlangte mit ihm zu verhandeln?
Normalerweise würde er solche Unverfrorenheit im Keim ersticken. Doch dieses unverschämte Ding … er wusste noch nicht, ob er ihre Naivität bewunderte oder sie dafür erdrosseln wollte. Und während er diesbezüglich eine Meinung bildete, konnte er ihr ja dabei gleich eine kleine Lektion erteilen.
„Ich habe das Gefühl, dass dieses Gespräch nach einem Getränk verlangt.“ Er spürte ihren misstrauischen Blick, während er zum Schnapsschrank ging und dort zwei Gläser füllte. Er kam zurück und hielt ihr eines hin.
Sie nahm es vorsichtig entgegen und schnüffelte daran. Ihre Nase rümpfte sich. „Was ist das?“
„Whiskey, versteht sich. Wie es sich unter zwei Gentlemen geziemt.“ Er hob eine Augenbraue. „Das ist doch gewiss nicht Ihr erster Whiskey.“
Sie schlug ihre dichten, sandfarbenen Wimpern zu ihm auf und erneut traf ihn das Strahlen ihres Blicks. Leuchtend wie der gottverdammte Sonnenschein auf einem See. Glaubte sie wirklich, mit solchen Augen als Mann durchgehen zu können?
„Freilich trinke ich Whiskey. Es ist sogar mein Lieblingsgetränk“, sagte sie beherzt.
Ein ganz schlechter Lügner war sie auch, stellte er fest. Sie war bereits rot wie ein Apfel. Ihre Wangen waren in der Tat so saftig rund, dass man als Mann gern einmal hineinbeißen mochte. Er ertappte sich beim Versuch, sie sich ohne Schnauzbart und Perücke vorzustellen. Und auch ohne die Herrenkleidung. Überhaupt, ganz ohne Kleidung.
Hmm, seine Gedanken führten ihn in eine interessante Richtung.
„In einem Zug“, sagte er und erhob sein Glas.
Sie straffte ihre schmalen Schultern, atmete durch und … goss sich den Whiskey in einem Zug hinunter. Das Ergebnis war vorhersehbar, aber nicht minder unterhaltsam. Ihre Augen tränten, sie begann zu gurgeln.
„Und?“, fragte er.
„K-köstlich“, würgte sie hervor. „D-der beste, den ich je gekostet habe.“
„Na, dann trinken Sie ruhig noch einen.“ Er machte Anstalten, ihr Glas zu nehmen.
Sie riss es an sich. „Nein! Ich meine, nein danke, es genügt schon.“ Sie räusperte sich. „Nun möchte ich gerne die Angelegenheit von Pauls Schulden besprechen, wenn es recht ist.“
Er bedeutete ihr, auf einem der Stühle gegenüber seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Er selbst blieb stehen, lehnte sich lässig an die Mahagonikante. „Dann nur zu, reden Sie.“
Sie setzte sich und er musste sich beherrschen, als er sah, wie sie hübsch sittsam ihre hohen Männerstiefel übereinander kreuzte.
„Mein Bruder ist ein Gentleman von gutem Charakter“, hob sie an. „Dies alles war ein schlimmes Versehen. In jener Nacht, als er in Ihre Lasterhöhle gelockt wurde, hatte er zu viel getrunken …“
Guter Gott, die Mitleidsmasche. Er verdrehte die Augen nach oben. Sie hatte sich doch bisher so einfallsreich erwiesen, da hatte er schon mehr erwartet.
„Gentleman oder nicht, Ihr Bruder wusste ganz genau, auf was er sich einließ, als er gegen das Haus setzte“, sagte er. „Sie kennen doch den Ausdruck: Man erntet, was man sät?“
Sie runzelte die Stirn und die Haare ihres falschen Schnauzbarts stellten sich auf wie die Borsten eines Stacheltiers. Es juckte ihm in den Fingern, ihr dieses grässliche Ding abzureißen. Und sie dann einmal richtig in Augenschein zu nehmen.
„Und da machen Sie keine Ausnahmen?“, fragte sie. „Mr. Hunt, haben Sie denn kein bisschen Erbarmen im Herzen?“
„Kurz gesagt? Nein.“
„Dann geben Sie meinem Bruder zumindest etwas Zeit, seine Schuld bei Ihnen zu begleichen.“
„Zeit hat er gehabt.“ Gavin besah sich die eigenen Fingernägel. „Nun schuldet er mir seine Teilhabe an der Kompagnie.“
„Aber die Kompagnie ist das Vermächtnis unseres Herrn Papa. Sein Lebenswerk … und alles, was uns von ihm bleibt.“ Ihre Stimme brach ein wenig. „Bitte, Sir, Sie können von Paul nicht verlangen, dass er sie Ihnen überschreibt.“
Der flehende Ausdruck in ihren azurblauen Augen hätte wohl jedes Herz erweicht—das nicht aus Stein war. Dennoch, sogar er empfand ein leichtes, und ihm ganz und gar fremdartiges Stechen in der Brust.
„Wir finden doch gewiss einen anderen Ausweg?“, fragte sie.
„Tun wir das?“ Er sah sie abwägend an.
Sie atmete tief durch und sagte dann: „Ich nehme an, Sie haben vom Marquis von Harteford gehört?“
„Von Harteford habe ich gehört.“ Obwohl es ihm die Eingeweide zusammenzog, blieb seine Stimme ruhig. „Und?“
„Nicholas—ich meine, der Lord Harteford—ist zufällig ein enger Freund meiner Familie. Es ist so gut wie ein Fines. Als Nick ein junger Mann war, war Papa sein Mentor im Betrieb, und später wurden die beiden Geschäftspartner. Nachdem Papa gestorben war, wollte Nick Paul dazu überreden, die Geschäftsleitung zu übernehmen, doch mein Bruder interessiert sich nicht für die Kompagnie … von seiner Teilhabe am Gewinn einmal abgesehen. Nick führt also die Geschäfte und zahlt Paul seinen Teil der Gewinne aus.“
„Scheint ja ein rechtschaffener Mann zu sein, dieser Nick.“
Sie nickte eifrig, sein Spott entging ihr ganz offenbar. „Er ist der Edelmut in Person und wie ein Bruder zu uns. Er hat meinem Bruder schon oft aus der Patsche geholfen. Und wenn Sie heute Ihr Einverständnis geben, meinen Bruder aus Ihrer Schuld zu entlassen, dann lässt sich Nick vielleicht davon überzeugen, Sie auszuzahlen“, sagte sie, und fügte nach einer dramatischen Pause hinzu: „Und zwar mit Zinsen.“
Er betrachtete sie stumm. Sein Verstand war in Bewegung gesetzt. Sein ursprünglicher Racheplan war einfach gewesen, nämlich alles zu zerstören, was Morgan am Herzen lag. Er könnte den Kerl natürlich auch einfach umlegen, aber wo lag denn da das Vergnügen? Nein, Morgan sollte genauso leiden, wie er gelitten hatte. Die zwei verwundbaren Stellen seines Feindes hatte Gavin bereits ausgemacht: Morgans Kompagnie und seine Familie. Nun, da er die Mehrheitsbeteiligung von Fines in Händen hatte, war es Gavins Absicht gewesen, den ersten Teil seiner Rache zu vollziehen, indem er Stück für Stück Morgans Lebenswerk zerstörte.
Als Nächstes hatte Gavin dann vorgehabt, sich Morgans Gemahlin, der Marquise zu nähern. Sie vielleicht zu verführen, was allerdings vielleicht schwierig geworden wäre, weil es sich bei Morgans Ehe allem Anschein nach um eine Liebesheirat handelte. Dennoch, Frauen waren ja bekanntlich flatterhafte, wankelmütige Geschöpfe. Gavin hatte sich entschlossen, die schwachen Stellen in der Abwehr von Lady Hartford ausfindig zu machen. Nun aber hatte er einen besseren, einfacheren Plan. Hier stand die Schwester seines Feindes, zwar nicht bluts-, aber doch seelenverwandt, und baumelte vor ihm wie ein reifer Pfirsich. Die Gelegenheit war fast zu günstig. Er könnte diesen kleinen Wildfang zugrunde richten, während Morgan im Urlaub lustwandelte und nicht eingreifen konnte. So machtlos, wie Gavin einst war. Der Gedanke beschleunigte seinen Puls.
Wer hält dann das Messer, Morgan? Wessen Kehle liegt dann bloß? Und wenn du mich dann anflehst, zeige ich dir die gleiche Gnade, die du einst mir erwiesen hast.
Obwohl die Wut in ihm köchelte, musterte Gavin seine Beute kaltblütig. Wenn der Rest von Percy auch nur halb so schön war wie ihre Augen, wäre es ihm ein Vergnügen, sie zu verführen.
Leicht nervös sagte sie: „Es gibt nur ein kleines Problem. Kein Problem, wirklich, sondern eher—ein vorübergehendes Hindernis. Wissen Sie, Nick ist zurzeit auf dem Kontinent unterwegs. Ich werde ihm jedoch unverzüglich schreiben, und ich bin mir sicher, wenn er meine Nachricht erhält—“
„Ihr ehrenwerter Nick ist also nicht hier?“ Oh ja, seine neue Strategie fügte sich wunderbar. „Und sein Geld ebenso wenig.“
„Nicht im Augenblick“, sagte sie. „Aber er kommt ja wieder. Und der Marquis von Harteford ist kein Mann, den man sich zum Feind machen möchte—“
Die Wut brach durch den Damm von Gavins Selbstbeherrschung. „Glauben Sie etwa, ich habe Angst vor dem verruchten Hund?“
„Ich habe nie behauptet—“
„Ich nehme, was mir gebührt, und ich nehme es mir jetzt.“ Er schoss von seinem Schreibtisch hoch und schritt auf sie zu. Sie wollte ihm drohen? Und ausgerechnet mit Nicholas Morgan—brüstete sich mit diesem niederträchtigen Unhold, als wäre er ein Held. Bei Gott, dieses unbändige Gör verdiente wirklich eine Lektion.
Sie sprang auf die Füße und wich vor ihm zurück. Dabei streckte sie ihre Hände aus, als könnte sie ihn damit abwehren. Sein Blut rauschte. Nichts erregte ihn mehr als eine Hatz.
„Aber Sir, es gibt doch keinen Grund zur Aufregung“, sagte sie mit großen Augen. Sie hatte ganz vergessen, ihre Stimme zu verstellen, sie quietschte geradezu. „Wir können doch weiter verhandeln.“
Noch drei Schritte, und er würde sie gegen die Wand drücken. „Genug verhandelt“, sagte er.
„Aber—uff.“
Ihr Hut segelte zu Boden, und noch ehe er auf dem Teppich aufkam, stemmte Gavin die Hände rechts und links von ihrem Kopf gegen die scharlachrote Tapete aus Damast. Sie war gefangen, starrte ihn an, ihre langen Wimpern flatterten hastig.
„Und von den Spielchen habe ich auch genug“, fügte er hinzu und griff nach dem Schnauzbart.
Er riss ihn mit einer raschen Bewegung ab.
„Aua“, quiekte sie.
„So ist es besser“, sagte er.
Sogar noch besser, als er sich vorgestellt hatte. Ohne den scheußlichen Bart blühten ihre Gesichtszüge vor seinen Augen auf. Sanft gerundete Wangen liefen zu einem pikanten kleinen Kinn zusammen. Als sie ausatmete, öffneten sich ihre rosigen, vollen Lippen, und er stellte fest, dass die Unterlippe in der Mitte ein einladendes Grübchen hatte. Er konnte sich nicht zurückhalten, er strich mit dem Daumen über die gerötete Stelle, wo der Schnauzbart gewesen war. Sie war sanft wie Daunen.
„W-was tun Sie da?“, stammelte sie.
„Ich will sehen, mit wem ich es hier zu tun habe. Nun, lassen Sie mich einmal sehen, was hier drunter ist.“
Er pflückte ihr die Perücke vom Kopf … und was er darunter fand, versetzte ihm einen Schlag, als hätte man ihn in die Magengrube geboxt.
Sonnenschein wogte herab. Wellige Strähnen von strohblond bis golden schwappten ihm in die Hände und fielen dann in wirren Bahnen bis zu ihrer Hüfte. Aufgrund ihrer dunklen Augenbrauen und Wimpern hatte er eine Brünette erwartet … nicht das hier. Seine Finger schlossen sich um eine glänzende Strähne; sie rutschte seine raue Handfläche herab wie Satin. Zum Kuckuck, Blondinen hatten ihm schon immer gefallen, vor allem die seltenen Naturblonden. Und Miss Persephone Fines erschien ihm ganz natürlich blond zu sein.
„Sie wussten es also die ganze Zeit über?“
Ihre atemlose Stimme brachte ihn zurück. Lenkte ihn von der Erektion ab, die in seinen Hosen rumorte. Bewusst unverschämt strich er ihr eine Haarsträhne hinters Ohr, seine Fingerknöchel streiften dabei die zarte Ohrmuschel. Befriedigung schwappte über ihn, als sie in Erwiderung seiner Berührung zitterte.
„Es gibt nur Weniges, was ich nicht weiß, dreistes Ding“, sagte er. „Je früher Sie das begreifen, desto besser wird es Ihnen ergehen.“
Ihre Augen wurden ganz rund und sie wurde noch rosiger. Oh ja, diese stürmische kleine Fee zu verführen würde ihm ein Leichtes sein. Fast zu einfach. Er wusste gar nicht, was süßer sein würde, sie oder seine Rache. Aber unter den gegebenen Umständen musste er sich ja nicht zwischen den beiden Genüssen entscheiden.
Denn mit der Hilfe von Percy Fines würde er beides bekommen.