1817, London, England
Der plüschig-weinrote Teppich dämpfte jedes Geräusch, verlieh dem Flur eine unheimliche Stille. Lady Helena Harteford schauderte, denn ein Luftzug rührte die Wasserlilien aus Satin, die auf ihrer weißen Tunika steckten, streifte geisterhaft sanft ihre nackten Schultern. Angesichts des launischen Londoner Frühlings war ihr Wassernymphenkostüm vielleicht nicht die beste Wahl gewesen, doch ihr stürmisch gefasster Beschluss hatte ihr wenig Muse für Vorbereitungen gelassen. Sie unterdrückte ein nervöses Lachen, das plötzlich über sie kam. Hätte sie geeignetere Kleidung gefunden, selbst wenn sie mehr Bedenkzeit gehabt hätte?
Und was war denn eigentlich ein angemessener Aufzug, um dem eigenen Ehemann in einem teuren Freudenhaus nachzuspüren?
Die Antwort darauf, dachte sie, war wohl kaum in ihrer gut zerlesenen Ausgabe der Umfassenden Handreichung zu damenhaftem Benehmen von Lady Epplethistle zu finden.
Irgendwo in der Ferne schlug eine Standuhr die Stunde, zwölf volltönende Schläge betonten die Dringlichkeit ihrer Mission. Helena besah den schlecht beleuchteten Gang vor ihr. Auf beiden Seiten des Flures bewachten lebensgroße Statuen eine Reihe von Türen. Behutsam näherte sie sich der ersten Tür und legte ihr Ohr an das kühle Holz. Kein Laut war zu hören. Die Wände erschienen ihr in der Tat dick und gediegen, so gebaut, um zu verbergen, was auch immer dahinter vor sich ging. Allein schon der Gedanke, dass ihr Mann solchen Dingen nachgehen könnte, gab ihr neuen Mut und trieb sie weiter den Gang entlang.
Zuvor hatte sie von einem Balkon des ersten Stockwerks aus beobachtet, wie Nicholas unten auf dem rasenden Maskenball ankam. Sie sah ihm zu, wie er mit zwei der „Nonnen“ tanzte, Kurtisanen, die nicht viel mehr trugen als ihr Rouge, und Helenas eigene Wangen unter ihrer Federmaske waren vor Eifersucht entbrannt. Die Art, wie diese Frauen sich an ihren Mann geschmiegt hatten, wie hungrige Katzen… Ein lautes Knacken erschrak Helena, sie blickte auf die entzwei gebrochenen Stäbe ihres eigenen Fächers hinab. Erst als er die Tanzfläche verlassen hatte (zum Glück allein), hatte sie wieder atmen können und war die Treppe empor gestürmt. Er musste in einem der Zimmer im ersten Stock sein; sie beabsichtigte, ihn zu finden.
Sie würde ihren Mann leicht erkennen, trotz der schwarzen Seidenmaske, die er trug. Zum einen war Nicholas einen Kopf größer als die meisten Männer. Mit seiner gebräunten Haut und kräftigem Körperbau ähnelte er eher einem Piraten als einem Lord des Königreichs. Sein kurzes, rabenschwarzes Haar krönte ein Gesicht, das eher ungehobelt als schön war, dennoch war sie von seiner energischen Nase und breiten Wangenknochen völlig gefangen. Und da waren dann noch seine Augen, von schimmerndem, wechselhaftem Grau, manchmal so dunkel und unergründlich wie ein Brunnen, dann wieder silbern wie aus Wasser aufsteigender Nebel.
Helena hätte ihren Mann sogar blind erkannt. Seine Gegenwart berührte sie auf eine verstörend heftige, urtümliche Art. Wenn er in ihrer Nähe war, atmete sie schneller, ihre Haut kribbelte vor unerträglicher Empfindlichkeit und ihr Blut pumpte eine lähmende Hitze in unaussprechliche Regionen ihres Wesens. Schon der Gedanke an ihren Mann rührte ihre heimlichsten Fantasien und erfüllte sie mit wenig damenhaftem Verlangen…
Helena schwankte ein wenig und griff Halt suchend nach dem Vorsprung einer Marmorstatue. Vielleicht hätte sie doch nichts von der Limonade trinken sollen. Sie hatte fremdartig geschmeckt, anders als jegliche andere Limonade, die sie zuvor gekostet hatte. Lauwarm war sie gewesen, und überdies schien es ihr, als würden ihr beim Trinken Mund und Eingeweide ganz heiß. Doch als ihr die Gastgeberin das Getränk angeboten hatte, war es ihr unschicklich erschienen, es abzulehnen. Außerdem hatte sie Durst und nichts anderes zu tun, während sie auf die Ankunft von Nicholas wartete.
Helena fand ihr Gleichgewicht wieder und begutachtete blinzelnd die Statue in der Dunkelheit. Das steinerne Gesicht hatte einen Bart und… Hörner? Da dämmerte es ihr, sie erkannte den lasziven Ausdruck. Ein Satyr, dachte sie, halb Mann, halb Ziege. Einmal zuvor hatte sie einen heimlichen Blick auf Zeichnungen von Satyrn erhascht, in einem aus der väterlichen Sammlung stibitzten Buch.
Sie blickte herab auf den dicken, langen steinernen Vorsprung unter ihren Fingern und japste vor Schreck. Ihre Finger flogen davon wie von einer Flamme versengt.
Gütiger Himmel! Ihre Wangen pochten heiß gegen die seidene Innenseite ihrer Maske. Das ist doch sicherlich keine lebensgetreue Wiedergabe. Ei, der könnte ja um meine beiden Hände herumreichen…
Sie schluckte, erinnerte sich an die eindringende Härte, das unerträgliche, zerrende Gefühl zwischen ihren Beinen in ihrer Hochzeitsnacht. War es das hier gewesen, das Nicholas in… in sie zu stoßen versucht hatte? Sie war in jener Nacht zu verängstigt gewesen, um hinzusehen, doch nun entlockte ihr der Anblick des Marmorphallus, voller Entschiedenheit nach vorne drängend, ein entsetztes Stöhnen.
Freilich war das nicht gegangen! Das widersprach ja allen Naturgesetzen. Trotz ihrer prallen Kurven war sie recht zierlich gebaut, sie reichte ihrem Mann gerade einmal bis zur Brust. Es war ein Umstand, der ihr Freude bereitete, denn sie fühlte sich zart und äußerst weiblich neben seiner energischen, männlichen Statur. Doch vielleicht führte der Unterschied in ihrer Körpergröße in anderen Gebieten zu einer gewissen Unvereinbarkeit. Etwa, als ob man ein Seil durch ein Nadelöhr fädeln wollte.
Sie sah sich verstohlen um, lehnte sich nach vorne, um die Statue noch näher in Augenschein zu nehmen. Sie war sich wohl bewusst, wie unschicklich ihre Neugier war, und dennoch wanderte ihre Hand noch weiter, wie ganz von selbst. Ihr Zeigefinger zögerte an der Wurzel des Phallus; überrascht stellte sie fest, dass darunter noch eine Frucht hing. Der rundliche Sack sah genauso aus wie ein Sommerpfirsich, vor Saft schwellend hing er von einem dicken Ast. Sie fasste Mut, setzte ihre Erkundung weiter nach oben fort. Unter ihrer Fingerspitze fühlte sich der Marmor kühl und hart an. Langsam fuhr sie die heraustretenden Adern nach, die sich um den Schaft wanden. Sie gelangte bis ans Ende, das unerwartet in einen prallen Pilz auswuchs. Ihre Fingerspitze hielt in der wundersamen Kerbe ganz an der Spitze inne.
„Hier entlang, Milord“, schnurrte eine weibliche Stimme. „Das Zimmer ist gleich hier.“
Das Geräusch riss Helena in die Wirklichkeit zurück und ihre Hand hastig von der Statue fort. Schritte nahten. Ihr vergingen vor Panik die Sinne. Kerzenlicht züngelte an den Wänden hoch, verdrängte den Zauber des Satyrs. Wenn sie nun erkannt würde, wäre es vorbei mit ihr. Ihre Instinkte übernahmen schließlich das Ruder und trieben sie weiter den Korridor entlang. Mit zitternden Händen ergriff sie den Messingknauf der nächstbesten Tür. Verschlossen. Sie hastete weiter, versuchte eine Tür nach der anderen, vergebens. Ihr Atem verfing sich regelrecht in ihrer Brust, als sie die letzte Tür des Flurs erreichte. Das letzte Zimmer. Erleichterung durchfuhr sie, als sie sah, dass die Tür nur angelehnt war. Sie schlüpfte hinein, schoss sachte hinter sich die Tür.
Einen Augenblick lang stand Helena in völlige Dunkelheit gehüllt. Dann hörte sie die gebrummelten Worte eines Mannes–gütiger Himmel, das Zimmer war besetzt. Ihre Hand schoss zum Türgriff. Zu ihrem Erstaunen drehte sich aber das glatte Messing bereits, rollte unter ihren Fingern weg. Ein lüsternes Lachen erklang auf der anderen Seite der Tür. Helena keuchte, fiel zu Boden. Mit einer aus schierer Angst geborenen Flinkheit wich sie rücklings aus dem einfallenden Lichtkegel, der immer größer wurde. Blindlings kam sie auf ihre Knie und kroch der Sicherheit der Dunkelheit hinterher. Sie stürzte sich vorwärts, tastete sich vorbei an den spindeldürren Beinen eines Pianoforte und dem samtbezogenen Rücken eines Kanapees.
„Nanu, was haben wir denn da?“
Die gedehnten Töne fegten ihr Gehirn leer. Sie hatte keine Worte mehr. Bebend, betend, sie möge in ihrem Kostüm unerkannt bleiben, wandte sie sich langsam um. Doch da stand niemand hinter ihr, lediglich die Umrisse der Möbel, die im schwachtrüben Kerzenschein wie gespenstige Monster schienen. Sie brauchte eine Minute, bis ihre Gedanken wieder strömten. Wer auch immer da sprach, meinte nicht sie. Erleichterung kribbelte in ihrer Brust.
„Ich habe hier eine Freundin, St. John. Sie heißt Lucy.“ Dies war noch eine Männerstimme, sie sprach in dem hohen Singsang der vornehmen Gesellschaft. „Und sie ist äußerst freundlich, nicht war, Luder?“
Lucy kicherte wie zur Bestätigung.
„Ich sage ja immer, je mehr, desto besser“, sagte St. John.
Nun, da ihr klar war, dass sich da zwei Männer und eine Dame im Zimmer befanden, atmete Helena sachte aus. So schrecklich unschicklich ihre gegenwärtige Lage hier auch war, zumindest war sie in kein Schäferstündchen hineingestolpert. Vermutlich war dies hier ein Abendessen unter Freunden, oder vielleicht ein Kartenspiel für drei Spieler. Helena legte ihre Wange an den Boden und spähte zwischen den Beinen des Kanapees hindurch. Plötzlich brannte ihr Gesicht, und zwar nicht von den rauen Borsten des Teppichs unter ihrer Wange. Beidseits von Männerstiefeln umgeben, standen da zwei bestrumpfte Beine in einem schimmernden Haufen Stoff. Sie sah, wie ein kurvenreiches Bein das abgestreifte Kleid beiseite stieß und sich sinnlich um den Stiefel vor ihm schlang. Gleichzeitig schmiegte sich das andere Bein an die hohen Stiefel dahinter.
„Oh, meine Herren, es scheint, ich stecke hier zwischen Hammer und Amboss“, gurrte Lucy. „Warum setzen wir uns nicht erst einmal und lernen uns besser kennen?“
Helenas Augen weiteten sich, als die Stiefel und seidenbekleideten Füße sich ihr näherten. Verzweifelt raffte sie ihre Röcke und kroch vom Kanapee weg. Ihre Knie schürften gegen den rauen Teppich, als sie auf der Suche nach einem Versteck nach rechts einschlug. Hinter ihr plumpsten Körper sacht auf Kissen, gefolgt von kehligen, tierischen Geräuschen. Helena wurde schneller, ihr Atem war in ihrem eigenen Ohr ein harsches Keuchen.
Gewiss werden sie mich hören! Gütiger Himmel, was soll ich nur tun, wenn…?
Da ragte eine dunkle Wand vor ihr auf. Sie hob eine zitternde Hand, tastete danach. Die Oberfläche glitt glatt und fest unter ihren Fingerspitzen entlang. Ein Schreibtisch. Sie kroch um ihn herum und schlüpfte in die Nische darunter. Helena zog ihre Knie an die Brust und wartete darauf, dass sich das Pochen in ihren Ohren legte.
„Gefällt Ihnen, was Sie sehen, Milords?“ Lucys heiseres Gelächter schien in der hölzernen Nische widerzuhallen und sandte einen fremdartigen Schauder über Helenas Haut.
„Nur zu, zeig uns, was du zu bieten hast“, lallte der Mann namens St. John. „Weiter hoch mit den Titten, ja? Ja, so ist es recht, drück sie zusammen, reib nur deine Zitzen für uns. Lass sie nass werden, Täubchen. Brookeston hier mag sein Obst schön saftig.“
Der andere Mann–Brookeston vermutlich–stöhnte zustimmend.
Darauf folgte ein Knistern, leise fiel etwas auf den Teppich. Dann Stille, unterbrochen von einem sehr leisen Geräusch. Helena spitzte die Ohren, während ihre Fantasie raste. Lucys jaulendes Stöhnen zerriss die Stille. Die Stimmen der Männer gesellten sich dazu, ermunterten sie, weiterzumachen. So wie die Glut der Spannung das Zimmer erhitzte, fühlte Helena die Luft in ihren Lungen schwer und feucht werden. Sie biss sich auf die Faust.
„So, nun spreiz mal deine hübschen Beinchen. Hm, sehr schön. Brookeston, was meinen Sie? Möchten Sie die Ware in Augenschein nehmen?“
Nach einer Pause seufzte Lucy ein lüsternes „Oh, ja“, und Brookeston klang erstickt. „Großer Gott, St. John. Die ist ja nasser als ein Straßenpflaster nach dem Regen. Ich will sie jetzt ficken.“
„Vielleicht, mein ungeduldiger Freund, beginnen wir lieber mit einem amuse bouche, sozusagen.“ St. John lachte leise. „Sei so gut, lutsch doch Brookestons Schwanz, das Monster zuckt ja schon regelrecht nach dir.“
Eine geladene Stille folgte. Helena wartete mit angehaltenem Atem. Plötzlich fuhr ein lautes Schlürfen durch die Luft. Dann noch mehr Laute, die nach einem üppigen Gelage klangen, als ob saftiges Fleisch vom Knochen genagt würde. Selbst in ihren unerfahrenen Ohren klangen die tierischen Geräusche nach wildem Genuss. Das Schmatzen von nassem Fleisch gegen nasses Fleisch entlockte Brookeston erregte Schreie. Ein seltsames Kribbeln wanderte über Helenas Haut. Schwindel überkam sie, sie senkte ihren Kopf auf ihre Knie.
„Sie schmecken köstlich, Milord“, schnurrte Lucys Stimme über die Worte. „Wie riesengroß Sie sind, ich vermag ja kaum, meinen Mund um Ihr Glied…“
„Das gefällt dir wohl, so mit Schwanz gestopft zu werden, nicht wahr?“, krähte Brookeston. „Gefällt dir, wenn ich mich in dein freches kleines Maul stoße. Dann nimm noch mehr davon, und zwar fest!“
Lucy gurgelte willig aus ihrem ganz offenbar hoch beschäftigtem Mund, was Helenas Herz noch schneller schlagen ließ. Ihr Gesicht entbrannte, als Bilder in ihre Vorstellung schwappten. War das, was sie vor ihrem inneren Auge sah, überhaupt möglich? Ihre Gedanken flogen zurück zu der Satyrstatue. Diesmal kniete jedoch eine Frau davor, ihre Lippen in wollüstiger Erwartung geöffnet… War das, was Männer ersehnten? Vermied Nicholas deswegen ihr Bett, weil er das hier wollte? Denn selbst in ihren kühnsten Träumen war ihr so ein Gedanke nicht einmal in den Sinn gekommen…
Fieberhaft gedachte sie des einen Males, als sie ihren Mann unbekleidet gesehen hatte. Das war über einen Monat her gewesen, in ihrer Hochzeitsnacht. Sie hatte die Kerzen gelöscht und es war dunkler als in einem Grab gewesen. Damals war sie für den Schutz der Dunkelheit dankbar gewesen; sie verbarg ihre allzu mollige Figur und ihre Nervosität. Sie zitterte unter den Laken, wusste nicht, was sie tun sollte, und hielt sich daher genau an die klaren Anweisungen ihrer Mutter:
„Mach deine Augen zu, mein Schatz, und rede dir ein, du wärst woanders. Oder besser noch, stell dir vor, du tätest gerade etwas anderes, etwas, das dir gefällt. Ich zum Beispiel war in Gedanken schon immer gern beim Hutmacher. Ich stelle mir einen entzückenden rosa Seidenhut vor, mit Pfingstrosen bestickt und mit einer Straußenfeder obendrauf. Manchmal auch eine recht gewagte Schute aus grünem Stroh mit einem Zweiglein Apfelblüten, aber…“–und an dieser Stelle hatte sie linkisch ihre Hand getätschelt–„das Wichtigste ist, dass man so still wie möglich daliegt und damenhafte Duldsamkeit übt. Denk daran, du bist in erster Linie eine Dame. Mit etwas Glück hast du deine Pflicht erfüllt und die garstige Angelegenheit ist vorüber, ehe du noch deinen Hut ausgewählt hast.“
So war Helena also in ihrem bauschigen faltigen Nachtgewand dagelegen, totenstill, mit geschlossenen Augen, und hatte darauf gewartet, dass Nicholas seiner Pflicht nachkam. Sie hatte einmal geblinzelt, lang genug um zu sehen, dass er ein weißes Nachthemd trug. Die Bänder am Hals waren schon gelöst. Sie hatte gerade einen recht faszinierenden Blick auf eine Stelle voll von schwarzem krausem Haar erhascht, als seine dumpfe Stimme ihre Augen wieder verschloss.
Sei eine Dame, hatte sie sich immer wieder gesagt. Übe damenhafte Duldsamkeit.
„Es tut mir leid, Helena. Ich werde–ich werde so sanft sein, wie es geht.“
Einen Augenblick lang hatte sie sich über die Schroffheit in seiner Stimme gewundert. Dann hatte sie etwas Hartes, etwas Massives gefühlt, dass sich zwischen ihre Beine zwang. Mit steigender Panik hatte sie begriffen, dass er beabsichtigte, in sie da unten einzudringen, in einen zu engen Raum für so ein großes… und dann der Schmerz, so plötzlich, so heftig, so scharf, dass er ihr den Atem nahm. Sie war gar nicht dazu gekommen, in Gedanken Hüte zu kaufen oder einen Strauß Wiesenblumen zu pflücken. Voller Scham erinnerte sich Helena daran, dass sie laut und gänzlich undamenhaft gejault hatte.
Nicholas war von ihr gesprungen, sein Gesicht von Schrecken erfüllt.
Seither hatte er sie vermieden.
Gewiss, höflich war er geblieben, außerordentlich höflich sogar, wann immer sie sich kurz im Frühstücksraum oder bei einer Abendveranstaltung begegneten. Er war immer gerade am Gehen, wenn sie ankam. Als Helena an ihren letzten Austausch beim Ball von Lady Wetherly vor fünf Nächten dachte, rann ihr eine Träne langsam unter ihrer Maske hervor. Ihr Gatte hatte einen Handkuss angedeutet, sein Blick so undurchdringlich wie trübes Glas. Er hätte genauso gut ein Fremder bei einer ersten Begegnung sein können. Während der stürmischen Zeit, als er noch um sie warb, war er völlig anders gewesen. Ihre Umarmungen waren damals selten und keusch gewesen, doch sie erinnerte sich noch an die exotische männliche Würze in seinem Duft, das sanfte Streichen seiner Lippen gegen ihre Hand.
Was hatte sie nur getan, wie hatte sie seine Zuneigung verloren?
„Hat dein Mäulchen nun genug von meinem Schwanz? Vielleicht willst du ihn nun woanders haben, in einem anderen nassen, saftigen Loch.“
Die schroffen Worte des Mannes holten Helena mit einem Ruck in das Zimmer zurück. Vielleicht, dachte sie benommen, lag es daran, was sie nicht getan hatte. Hatte ihre Mutter etwa Unrecht gehabt? Konnte der Verkehr unter Vermählten vielleicht mehr sein als Besuche beim Hutmacher oder passives Hinnehmen der ehelichen Pflicht?
„Ja, ja! Das ist es, Milord, fester, oooh, genauso, wie mein Kätzchen nach Futter hungert…“
Gewiss würde Nicholas kein ähnliches Benehmen von mir wünschen… oder etwa doch?
Es war fast unvorstellbar, allerdings war er ein Mann. Gestern, als sie wieder heimlich, wehmütig durch die Räume ihres Mannes geirrt war, hatte sie das Billet zu einem Freudenhaus entdeckt. Es hatte aus einem Umschlag hervorgelugt, ihr Blick war auf das silberne Glitzern gefallen. Obwohl sie sich selbst für ihre Indiskretion gescholten hatte, hatte die Neugier sie doch dazu getrieben, das dünn gepresste blecherne Billet herauszunehmen. Die Eintrittskarte war so groß wie eine Spielkarte und hatte zunächst ganz harmlos gewirkt. Vorne waren Hamlets Worte „Geh in ein Kloster“ eingraviert.
Als sie das Billet umdrehte, war ihr die Kinnlade heruntergefallen. Das krude Bild zeigte eine unbekleidete Frau mit riesigem Busen, neckisch in gespieltem Gebet kniend. Unter der Figur war ein Einlassdatum graviert. Als ihr bewusst wurde, dass Nicholas diese Höhle der Unbilligkeit gleich am nächsten Abend aufzusuchen beabsichtigte, hatten ihre Ohren plötzlich zu klingen begonnen.
So behütet sie auch war, von diesem berüchtigten Club hatte sie es schon flüstern hören. Das Kloster war der Gerüchte halber ein teures, von allen Schichten frequentiertes Spiel- und Freudenhaus. Beim allwöchentlichen Maskenball standen Edelleute des Königreichs auf Du und Du mit Kaufleuten und Advokaten, und wer auch immer sonst es sich leisten konnte, zu trinken, spielen und die Begleitung der exquisiten Halbwelt zu genießen. Und was noch skandalöser war, laut ihrer Freundin Lady Marianne Draven besuchten gewisse verheiratete Damen der feinen Gesellschaft ebenfalls den Maskenball.
„Wenn ein Mensch verkleidet ist, zeigt sich seine wahre Natur“, hatte Marianne gesagt, gleichgültig mit ihrem Fächer wedelnd. „Schließlich ist das Verlangen nach erotischer Zerstreuung nicht nur das Gebiet der Männer. Was dem einen recht ist, ist dem anderen billig.“
Helena wusste, dass sie alles aufs Spiel gesetzt hatte–ihren Stolz, sogar ihren Ruf an sich–um heute Nacht hierher zu kommen. In ihrem vor Liebe verworrenen Geist hatte sie geplant, Nicholas den Umgang mit Huren auszureden; Herzschmerz erschien ihr bei Weitem schlimmer als der körperliche Schmerz, den sie beim Vollzug ihrer Ehe verspürt hatte. Sie würde tun, was auch immer nötig war, um den Schleier von seinen Augen zu lüften, um wieder die Wärme seiner Zuneigung zu empfinden. Sie verspürte heftige Sehnsucht danach, die Frau zu sein, die Nicholas wollte. Sie würde alles tun, damit er sie wieder liebte. Alles.
Und, sann sie nun mit erneuter Entschlossenheit, zu lernen, ihrem Mann im Schlafgemach zu gefallen, konnte ja nicht so viel anders sein, als jegliche andere Kunst zu erlernen, nicht wahr? Wenn sie sich einer Sache sicher war, dann war es ihre Gelehrigkeit. Sie war stolz auf ihre Fähigkeiten als Schülerin. Hatten ihre Erzieher nicht stets ihre Auffassungsgabe gelobt, weil sie verschiedene Fächer so schnell meisterte, von Französisch bis zur Aquarellmalerei? Hatte sie nicht, sehr zum Erstaunen ihres Klavierlehrers, binnen zweier Wochen eine knifflige Passage der Fuge in c-Moll von Meister Bach einstudiert?
Dann konnte sie ja wohl auch lernen, eine Gemahlin zu sein.
Alles, was ihr fehlte, war die rechte Einweisung. Oder zumindest die Gelegenheit zur eingehenden Beobachtung.
Von Hoffnung und Verzweiflung ermutigt, rutschte Helena aus ihrem Versteck und spähte um den Schreibtisch herum. Ihre Augen waren schon an die Dunkelheit gewöhnt, sie sah die Konturen der Möbel und–Um Himmels willen!–die Fußsohlen der Frau, die wild über der Rückenlehne des Kanapees wippten. Die Gestalten selbst waren irgendwo unterhalb ihres Blickfelds zugange. Wie konnte sie beobachten und gleichzeitig verborgen bleiben? Wie sie so über ihr Dilemma nachsann, bemerkte sie die schweren Samtvorhänge links vom Sitzbereich. Sie reichten von der Decke bis zum Boden, und es schien, dass dahinter noch mehrere Lagen Stoff hingen. Genug, um sogar mehrere Personen zu verstecken.
Perfekt.
Es blieb nur eins: diese Vorhänge unerkannt zu erreichen. Helena fuhr mit ihren Handflächen über ihr lose sitzendes Überkleid und fühlte ihren Petticoat knirschen. Ihre Korsettstangen behinderten sie auch. Die mussten weg. Sie kämpfte ein paar Minuten, es gelang ihr schließlich, die Bänder zu lockern, mit denen die Schichten ihrer Untergewänder an sie geschnürt waren, und sie schlüpfte aus ihnen wie ein Schmetterling aus seinem zarten Kokon. Heisere Schreie boten ihr Deckung.
Jetzt oder nie.
Sie atmete tief durch und kroch auf die Vorhänge zu, ihr Rock streifte kaum hörbar über den Teppich. Mit jeder Vorwärtsbewegung erschien der Weg dahin länger. Sie glaubte, jeden Moment entdeckt zu werden; erwartete eine wütende Stimme oder eine Hand, die sie packte. Dennoch kroch sie weiter, mit blinder Entschlossenheit. Als sie die Sicherheit der samtenen Falten erreichte, waren ihre Handflächen feucht und ihr Körper zitterte vor nervöser Aufregung.
Dann stieß sie gegen etwas Hartes, Warmes.
Ihr Atem erstarrte ihr in der Kehle. Sie war gerade im Begriff zu schreien, als sich eine große Hand über ihren Mund legte und eine zweite ihre Taille umschloss. Sie war bewegungslos. Ihr Schreck kämpfte mit einer fürchterlichen Erkenntnis.
Sie war nicht allein.
„Sei doch still, oder wir werden entdeckt“, flüsterte eine wohlbekannte Stimme ihr ins Ohr.
Ihr Herz schlug noch schneller, wenn das überhaupt möglich war.
„Verstehst du?“ Seine Stimme war leise, fast unhörbar, doch diese tiefen, männlichen Töne hätte sie überall erkannt. Eine Mischung aus Grauen und Erleichterung machte sie ganz duselig. Sie drehte sich langsam zu ihm und sah in bodenlos dunkle Augen. Nicholas. Im silbernen Mondlicht, das durch die Fenster hinter ihnen fiel, konnte sie sehen, dass er seine Maske abgenommen hatte. Schatten verdunkelten seine Gesichtszüge, aber sie konnte den steinharten Verlauf seines Kiefers ausmachen, die strengen Lippen.
Sie hielt den Atem an, erwartete die Reaktion ihres Mannes. Was würde er dazu sagen, seiner Frau in so einem Moment, auf so eine Art und Weise zu begegnen?
„Verstehst du?“, wiederholte er, so ruhig wie das erste Mal.
Sie nickte, benommen vor Schock.
Gütiger Himmel, er erkennt mich nicht!
Er ließ sie los, und etwas verspätet tastete sie nach ihrer Wange. Die mit Federn besetzte Maske saß noch sicher. Ihre Finger wanderten zu der Fülle kupferner Locken–sie hatte rot gewählt, um ihr eigenes glattes, braunes Haar zu verbergen. Die Schminke hatte wohl ihr Übriges getan, um sie zu verkleiden. Am Anfang des Abends hatte sie ihren Schminkpinsel freizügig in die winzigen Kupferbecher getaucht, um ihre Maskerade zu vollenden. Sie hatte beim Blick in den Spiegel eine Woge der Erregung gefühlt. So würde keiner die sittsame Lady Helena erkennen: anstößig rote Lippen, rauchige Augenlider, geschwärzte Wimpern. Keiner würde die Wassernymphe mit dem ruchlos roten Haar und schamlos tiefen Dekolleté ansehen und die Marquise von Harteford erkennen.
Offensichtlich noch nicht einmal der Marquis von Harteford selbst.